Natürliche Lernumgebung statt Reizüberflutung

7. Dezember 2022
Die Herisauer Kindergärten und ihr «Waldmorgen»: Beobachtungen und Erklärungen zwischen Ästen, Laub, Moos, Grillfeuer und Hütten.

Sie sind mit wetterfesten Kleidern ausgerüstet, mit Rucksäcken, warmen Schuhen, Mützen und Handschuhen. 60 Kinder aus dem Landhaus sitzen im Regiobus. Ziel der Kindergartenklassen von Jil Steiner, Lukas Rechsteiner und Mandy Modert ist der Rechbergwald, wie an jedem zweiten Freitagmorgen. Immer kommen nebst den Lehrpersonen Praktikantinnen, Klassenassistenzen oder Eltern als zusätzliche Begleitung mit. Jetzt bewegt sich die Gruppe in einer eindrücklichen Schlange von der Haltestelle Langelen hinauf Richtung Feuerstelle. Die Frage, ob sich die Kinder freuen, stellt sich nicht. In den meisten Gesichtern ist Begeisterung zu sehen.

«Wer schnitzt, sitzt»
 

Kindergarten im Wald

Die Kinder bilden einen grossen Kreis. Kindergärtner Lukas Rechsteiner ruft ein paar Regeln in Erinnerung. Zum Beispiel: «Wer schnitzt, sitzt.» Und: Man kämpft nicht mit Holzstecken, schubst Kinder nicht auf dem nassen Laub. «Und Pilze lassen wir stehen.» Wenn man irgendwo hinaufklettere? «Dann sollte jede und jeder selber wieder herunterkommen», ergänzt ein Mädchen und lacht. Nur in den ersten Wochen des Schuljahres setze er ein Markierband zur besseren räumlichen Orientierung ein, erzählt Lukas Rechsteiner. «Aber das Ganze spielt sich gut ein, es entfernt sich nie ein Kind weiter als auf Sichtdistanz.» Meist sei ein genaues Programm nicht vorgesehen und nicht nötig. Die Kinder entdecken viel, es entstehen oft Ideen und Gespräche fast aus dem scheinbaren Nichts heraus. Ein Ast, eine Wurzel, Abdrücke am Boden, ein Fundgegenstand, ein Brett geben Anlass für Aktivitäten und einen Austausch unter den Kindern oder mit den Begleitpersonen. Die Kinder suchen interessante Aufhängeorte für den Rucksack, tragen Holz heran, stapeln Laub, springen über Äste, bauen eine Hütte, heben Steine hoch. Schnur, Faden, Schere, eine Blache, daneben eine Flöte mit einem pfeifenden Signalton für das Zusammenbringen der Kinder: das mitgebrachte Material ist überschaubar.

Ausführliche Information nötig
«Die Natur bietet zu jeder Jahreszeit eine vielseitige Lernumgebung. Alle Sinne werden angesprochen», sagt Carol van Willigen, die in der Herisauer Schulleitung für die Kindergärten zuständig ist. Der Wald biete ausreichend Platz für Bewegung, es gebe keine Reizüberflutung durch industriell hergestelltes Spielzeug, und es könne von Klein auf ein ökologisches Bewusstsein vermittelt werden. Zudem würden im Lehrplan Aussenräume wie Waldplätze, Wiesen, Bachläufe oder Spiel- und Sportplätze in der näheren Umgebung explizit als ausgezeichnete Lernorte zum Sammeln von Erfahrung und zur Schärfung der Wahrnehmung aufgeführt. «Für manche Kulturen ist der Wald ein weniger bekannter und auch unsicherer Ort», ergänzt Carol van Willigen. Daher sei eine ausführliche Information der Eltern vor dem ersten Vormittag im Wald sehr wichtig. Geeignete Schuhe und Kleidung, die schmutzig werden dürfen, gehören denn auch bald zur Standardausrüstung der Kinder. 

Selten ist es zu gefährlich
Der «Waldmorgen» der Kindergärten ist in Herisau (wie in anderen Gemeinden) institutionalisiert. Er werde bei Bewerbungsgesprächen mit Kindergärtnerinnen angesprochen, erzählt die Schulleiterin. Die einen Kindergärten gehen jede Woche in den Wald, die anderen alle zwei Wochen – zum Beispiel alternierend zum Schwimmunterricht im Sportzentrum. Die Termine sind den Eltern bekannt. «Die Kinder besuchen den Wald während des ganzen Schuljahres.» Ausnahmen betreffen Stürme, weil es dann zu gefährlich wäre. Und Vormittage, an denen Schneemassen auf den Bäumen liegen und herunterzufallen drohen. «Dann gehen wir Schlitteln oder im Schnee spielen», erzählt Lukas Rechsteiner. Einige Kindergärten haben den Wald in unmittelbarer Nähe des Kindergartens, für andere geht ein Spaziergang oder eine Fahrt voraus. Welcher Kindergarten wann welchen Wald besucht, wird vorgängig unter den Lehrpersonen vereinbart.

Eine Angel da, eine Schaukel dort
 

Kindergarten im Wald

Im Rechbergwald brennt schon längst das Feuer an der Grillstelle. Es ist 10 Uhr: Der Moment, um kleine Spiesse mit den Vornamen hervorzuholen und in die Würste zu stecken, die bald auf dem vollen Gitterrost braten. Ohne sie wäre eine Zuordnung unmöglich. Einige Kinder haben nebst Tee in ihren Znünibüchsen auch Rüebli, Tomaten und Äpfel mitgebracht. Manchmal koche man Suppe, erzählt ein Junge, während er eine Schnur an einem Ast anbringt. Was er mit dieser Angeleinrichtung vorhat, erschliesst sich dem Beobachter nicht. Macht nichts. Ein paar Kinder zeichnen noch etwas auf den Boden, bevor ihre Wurst als «essbereit» ausgerufen wird. Ein Junge bastelt einen Zauberstab. Einige untersuchen einen Baumstrunk, andere nützen ein Brett als natürliche Schaukel. Um 11 Uhr machen sich die Kindergärtler auf den Weg zurück zur Bushaltestelle. «Adieu Wald, adieu Tier, adieu Chind», tönt ein Lied zum Abschied. 

Kindergarten im Wald

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